4. Bifurkation
4.1 Die Schmetterlings-Population
Diese Kapitel beschäftigt sich mit dem Ausbruch des Chaos in geordneten Systemen und dem Weg dorthin. Ein gutes Beispiel dafür ist die Population eines Schmetterlings, der im Sommer lebt, im Herbst seine Eier ablegt und im Winter abstirbt. Angenommen, bei der Überwinterung überlebt immer etwa der gleiche Prozentsatz von Eiern und schlüpft. Nehmen wir an, unsere Kolonie besteht anfangs aus 100 Schmetterlingen und verdoppelt sich jährlich. Dann hätten wir nächstes Jahr 200, im dritten Jahr 400 Falter. Dazu läßt sich eine einfache Formel bilden: Natürlich muß sich die Population nicht unbedingt verdoppeln. Nehmen wir also statt der konstanten Geburtenrate 2 die Variable B in unsere Formel auf:
Dieses exponentielle Wachstum kann sich aber nicht ungebremst fortsetzen, weil das Populationssystem von anderen Systemen in der Nahrungskette abhängig ist. Dazu muß ein zusätzliches Glied in die Rechnung eingebracht werden. Um die Rechnung vorher noch zu vereinfachen, ist es hilfreich, die Gleichung zu normieren. Dazu lassen wir für nur mehr Werte zwischen 0 und 1 (0% und 100%) zu, wobei 1 (100%) den Maximalwert darstellt, den die Population im Extremfall erreichen kann. Jetzt aber zurück zu unserem zusätzlichen Glied der Gleichung: Die verschiedenen Umwelteinflüsse können mit dem Faktor auf der rechten Seite der Gleichung dargestellt werden. Wenn jetzt gegen 1 geht, wandert andererseits der Faktor gegen 0 und verkleinert praktisch die Geburtenrate. So arbeiten die 2 Faktoren gegeneinander. Gleichzeitig wird auch die Gleichung nichtlinear und sieht folgendermaßen aus:
Diese Gleichungen bietet viele Anwendungsmöglichkeiten: Insektenforscher beschreiben damit die Ausbreitung von Schädlingen in Obstgärten, Genetiker die Häufigkeitsschwankungen bestimmter Gene in einer Population, Psychologen die Ausbreitung von Gerüchten oder die Lerntheorie: Zunächst wächst in diesem Beispiel das Wissen an, aber nach einiger Zeit wird der Lernende gesättigt, und größere Anstrengungen bringen nur noch minimale Ergebnisse. Doch überall, wo diese Gleichung eingesetzt wird, sollte man auf Überraschungen gefaßt sein: In ihr lauert das Chaos, wie Sie aus den folgenden Zeilen erkennen können. (vgl. Briggs/Peat 1990, S. 75-80)
4.2 Änderung der Geburtenrate führt ins Chaos
Wenn wir annehmen, daß die Geburtenrate von außen beeinflußt werden kann (z. B. durch Insektizide), so ergeben sich verschiedene Möglichkeiten:
Schaffen wir es, die Geburtenrate unter 1 zu halten, so wird jede Population allmählich auf 0 abfallen und die Kolonie erlöschen.
Wenn die Geburtenrate aber größer als 1 ist, sieht die Sache anders aus: Bei einer Rate von 1,5 ist der "Attraktor-Wert" nicht mehr 0, sondern 1/3. Das heißt, daß sich die Population auf 33,3% des Maximalwertes einpendelt. Bei der Geburtenrate 2 erreicht dieser Wert bereits 0,5 bzw. 50%.
Eine Änderung dieses Verlaufs ergibt sich ab dem kritischen Wert 3: Der einzelne Attraktor spaltet sich in zwei, also schwankt die Population zwischen zwei stabilen Werten hin und her. In die Realität übersetzt bedeutet das, daß sich z. B. die Schmetterlinge wie wild vermehren wollen und viele Eier ablegen. Im nächsten Jahr ist aber die Überbevölkerung so stark, daß ein großes Sterben beginnt. Die wenigen Tiere hinterlassen nur mehr wenige Eier. Im Jahr darauf legen die wenigen Schmetterlinge aber wieder sehr viele Eier, und so weiter.
Steigt die Geburtenrate weiter zum Wert 3,4495, dann teilt sich der Doppelattraktor wieder in vier, bei 3,56 in acht und bei 3,569 in 16. Hier ist schon fast keine Ordnung bei den herumspringenden Werten mehr zu erkennen. Bei einer Geburtenrate von 3,56999 ist schließlich die Anzahl der sozusagen "Teilattraktoren" unendlich groß geworden. Die einzig mögliche Feststellung bleibt, daß der Attraktor ein Bereich zwischen zwei Extremwerten wird. Dieser chaotische Bereich vergrößert sich aber auch weiter, bis der Attraktor beim Wert 4,0 überhaupt den ganzen Bereich zwischen 0 und 1 ausfüllt - Die Population wurde chaotisch und völlig unvorhersagbar. Bei einer Geburtenrate über 4,0 würde die Population trotz des zugefügten Gliedes ins Unendliche steigen.
Das obige Bifurkationsdiagramm zeigt diese Entwicklung: Auf der x-Achse wurde die "Geburtenrate" im Intervall [0;4] eingetragen, auf der y-Achse die "Populationszahlen" von der 200. bis 500. Wiederholung ("Iteration") der Gleichung im Intervall [0;1]. Die Werte vor der 200. Iteration wurden nicht gezeichnet, da sie sich dort erst auf einen oder mehrere "Attraktor-Werte" einpendeln müssen. (vgl. Schlöglhofer 1995 S. 12; Briggs/Peat 1990, S. 80-83 und Sexl-Kühnelt-Stadler-Jakesch 1992, S. 9)
4.3 Eigenarten des Bifurkationsdiagramms
Interessant wirken bei diesem Bifurkationsdiagramm auch die "Fenster", die plötzlich, mitten aus dem Chaos, auftreten. Sie sind als weiße Bänder im Diagramm sichtbar. Beim Wert 3,8 entsteht beispielsweise ein solches Fenster, ein Bereich von Ordnung im Chaos: Der chaotische Bereich löst sich auf, aus ihm treten drei vorhersagbare Populationszahlen hervor. Diese lösen sich aber (übrigens wieder mit neuen Bifurkationsspaltungen) bei geringfügiger Steigerung wieder auf, das Chaos flutet wieder ins "Fenster" herein. Solche Stellen von Ordnung zwischen den Chaos-Bereichen nennen Chaostheoretiker auch "Intermittenzen". Diese finden sich in immer kleineren Maßstäben im ganzen Bifurkationsdiagramm wieder. Durch diese Selbstähnlichkeit kann auch dieses Diagramm als Fraktal bezeichnet werden (siehe dort). Im folgenden - vergrößerten - Abschnitt des Diagramms (B in [2,9;4]) ist dies noch deutlicher erkennbar:
Außerdem sind im Bifurkationsdiagramm dunkle parabelförmige Linien im chaotischen Bereich erkennbar. Dort befindet sich das System mit erhöhter Wahrscheinlichkeit - eine weitere Form der Ordnung im Chaos. (vgl. Briggs/Peat 1990, S. 84)
4.4 Bifurkation einer Schülergruppe
Mit einem weiteren chaotischen, weil komplexen, System läßt sich die Bifurkation vereinfacht auch für Nichtmathematiker leicht verständlich erklären: Eine Schülergruppe besucht eine Studieninformationsmesse. Während der Zugfahrt und bis zum Eingang bewegt sie sich gemeinsam weiter. Bei einer Wegteilung nach dem Eingang spaltet sich auch die Gruppe in zwei Teile auf. Bei der nächsten Kreuzung teilt sie sich wieder, und so weiter, bis sie völlig chaotisch am ganzen Messegelände verteilt ist. An manchen Orten (Messecafé, ...) sind die Schüler dabei mit höherer Wahrscheinlichkeit anzutreffen - unsere Parabel-Linien. Haben sich einige Gruppen Treffpunkte zu einem gewissen Zeitpunkt ausgemacht, nach dem sie sich wieder verteilen, oder treffen sie sich zufällig, so entspricht das den "Fenstern" im Diagramm. Die neuerliche Verteilung erfolgt wieder nach dem Prinzip der anfänglichen.
Schlüsselt man es genauer auf, ist dieses System natürlich viel komplexer als unsere obere Formel, doch das ist nicht Gegenstand dieser Arbeit - Oder doch? Die Mandelbrotmenge kann nämlich auch als komplexeres Bifurkationsdiagramm gedeutet werden, doch näheres später.