5. Fraktale und fraktale Dimension
5.1 Was ist ein Fraktal?
"Das Wort Fraktal wurde von Mandelbrot erfunden, um eine umfangreiche Klasse von Objekten unter einem Begriff zu vereinen, die in der Entwicklung der reinen Mathematik eine historische Rolle gespielt haben"
So zitierte schon Benoît B. Mandelbrot (1987, S. 15) selbst F. J. Dyson, um den Lesern den Grund für seinen neu geschaffenen Begriff "Fraktal" zu erklären. Wie kam es also zu diesem neuen Wort? Dazu Mandelbrot:
"Aus dem lateinischen Adjektiv fractus habe ich Fraktal geprägt. Das entsprechende lateinische Verb frangere bedeutet 'zerbrechen: unregelmäßige Bruchstücke erzeugen'. Es ist deshalb vernünftig - und für uns sehr geeignet! -, daß fractus neben 'in Stücke zerbrochen' (wie in Fraktion oder Refraktion) auch noch 'irregulär' meint." (Mandelbrot 1987, S.16)
Aus dieser Erklärung kann man schon ahnen, welche Figuren mit dieser Beschreibung gemeint sind: Sie sind "irregulär" und "in Stücke zerbrochen". Eine genauere Definition könnte diese sein:
"Im allgemeinen sind Fraktale durch unendliches Detail charakterisiert, durch unendliche Länge, durch das Fehlen einer Steigung oder 'Ableitung', durch gebrochene Dimension, Selbstähnlichkeit - und sie lassen sich [...] durch Iteration erzeugen." (Briggs/Peat 1990, S. 138)
Diese Erklärung bringt nicht nur Licht in die Sache, sie erinnert auch an Abschnitt 3.3, wo der Torus-Attraktor bei Steigerung in eine gebrochene Dimension auswich und zum seltsamen Attraktor wurde. Genauso erinnert die Erklärung an die Selbstähnlichkeiten in den Saturn-Ringen (2.2) und bei den "Fenstern" des Bifurkationsdiagrammes (4.3). Die Selbstähnlichkeit bedingt dazu noch eine weitere beschriebene Eigenschaft: unendliches Detail. Wenn sich die charakteristischen Formen des "Fraktals" auf immer kleineren Maßstäben wiederholen (Selbstähnlichkeit), dann tauchen diese Formen bei wiederholender bis sogar unendlicher Vergrößerung als neue Details wieder auf. Durch diese unendlichen Details kann man aber auch nicht mehr eindeutig feststellen, wie die Kurve in einem bestimmten Punkt verläuft - das Errechnen einer "Ableitung" wird unmöglich. Durch nähere Vorstellung einiger Fraktale werde ich versuchen, diese charakteristischen Eigenschaften zu verdeutlichen.
5.2 Die Koch-Kurve als typisches Beispiel für ein Fraktal
Das oft auch "Scheeflockenkurve" genannte Fraktal, das Helge von Koch 1904 entdeckte, eröffnet gute Möglichkeiten zur Beschreibung der fraktalen Eigenschaften. (Der zweite Name der Kurve rührt aus der Eigenschaft her, daß man bei richtigem Zusammenfügen dreier solcher Kurven ein "sechseckiges" Gebilde erhält, das einer Schneeflocke sehr stark ähnelt. Dieses Gebilde wird in der Literatur oft auch "Koch'sche Insel" genannt.) Man erhält diese Kurve, wie die meisten Fraktale, indem man einen Ersetzungsvorgang immer wieder durchführt, theoretisch sogar unendlich oft. Dieses Wiederholen eines Vorgangs wird auch als "Iteration" bezeichnet (lat. iterum = wiederum). In diesem konkreten Fall wird eine einfache Linie ("Initiator") durch eine Figur aus vier Linien ("Generator") ersetzt:2
Diese in der Erstellung so einfach wirkende Kurve weist schon einen Komplexitätsgrad auf, der in der gewöhnlichen Geometrie eigentlich nicht auftritt. Will man jetzt die Länge dieser Kurve ermitteln, kommt man gehörig "ins Schwitzen": Nehmen wir an, der Initiator hat die Länge 1, dann beträgt die Länge der Kurve im ersten Schritt =1,333; im zweiten =1,778; im dritten 2,370; im vierten 3,160; im fünften 4,214 und so weiter, nach unendlich vielen Schritten (diese müßten ja ausgeführt werden) würde die Kurve unendlich lang!
Die gleiche Frage stellt sich auch in der Realität bei Staatsgrenzen und Küstenlinien: Durch den großen Detailreichtum ändert sich auch hier die Länge, je genauer der Maßstab ist, mit dem sie gemessen wird. Daher sind auch in verschiedenen Büchern oft verschiedene Längenangaben für ein und dieselben Grenzen oder Küsten angegeben! Diese unendliche Länge bei kleinstem Maßstab (man könnte ja auch um jedes Molekül oder Atom herum messen!) ist ein Grund, warum auch Grenzen und Küstenlinien als Fraktale gesehen werden können. Das gleiche muß, wenn man diese Erkenntnis überdenkt, bei praktisch jeder natürlichen Figur gelten, wie auch Benoît Mandelbrot in "Die fraktale Geometrie der Natur" schon allein durch diesen Titel feststellt. (vgl. Mandelbrot 1987, S. 46-53; Briggs/Peat 1990, S. 134; Scholl/Pfeiffer 1991, S.19-21)
5.3 Fraktale Dimension am Beispiel der Peano-Kurve
Wenn aber die Länge eines Fraktals nicht feststellbar ist, wie soll man dann Fraktale mathematisch vergleichen? Mandelbrot bietet eine Lösung an, eine Lösung, die sich nicht auf eine quantitative Messung wie die der Länge stützt, sondern auf eine Art von qualitativer Messung, die vom Maßstab unabhängig ist: die fraktale Dimension.
Zum Verständnis dieses Dimensionsbegriffes muß aber zunächst der Dimensionsbegiff von Grund auf ins Gedächtnis gerufen werden: Wir alle sind uns einig, daß der Raum dreidimensional ist. Eine Tischplatte oder ein Stück Papier sind praktisch zweidimensional, eine Linie oder Kante eindimensional und ein Punkt oder auch eine Menge von Punkten schließlich ist nulldimensional. (laut Briggs/Peat 1990, S. 136
Schon hier bringt die übliche Geometrie ein Problem mit sich: eine Menge von Punkten ist nulldimensional, die eindimensionale Linie ist aber ihrerseits wieder als eine Menge von Punkten (!) definiert. Genauso ist eine Fläche und auch ein Körper wieder als Punktemenge definiert. Giuseppe Peano brachte 1890 eine weitere Bombe zum Platzen, als er eine "raumfüllende Kurve" entdeckte. Alle Mathematiker waren sich einig, daß eine Kurve, auch wenn sie noch so gekrümmt war, eindimensional sein mußte und daß erst eine Ebene zweidimensional war. Peano hatte jetzt eine Kurve gezeichnet, die die ganze Ebene ausfüllte, auf der sie gezeichnet war (Die Ecken wurden in der Zeichnung abgerundet, um zu verdeutlichen, daß sich die Kurve nicht selbst schneidet und in einem Zug gezeichnet werden kann):
War diese Kurve jetzt ein- oder zweidimensional? Mit unserem normalen ("topologischen") Dimensionsbegriff ist das nicht mehr nachvollziehbar. Wir müssen daher einen neuen Dimensionsbegriff einführen. Mandelbrot nahm dazu denjenigen, der in der Mathematik nach seinen Erfindern als Hausdorff-Besicovitch-Dimension oder einfach als gebrochene Dimension bekannt ist, und benannte ihn auch als fraktale Dimension. Wir haben ihn schon in Kapitel 3.3 beim "seltsamen Attraktor" beziehungsweise beim Beispiel der Papierkugel kennengelernt.
Um diesen Dimensionsbegriff verständlich zu machen, gehen wir auf die uns bekannte "topologische" Dimension zurück und versuchen, sie mit der neuen Methode herzuleiten, bevor wir uns auf die Bestimmung der Dimensionen einiger Fraktale stürzen: Wenn wir eine Linie mit dem Faktor teilen, dann erhalten wir 3 kleinere, gleich lange Linien. Teilen wir mit dem gleichen Faktor ein Quadrat, so erhalten wir 9 (3²) kleine Quadrate, bei einem Würfel 27 (3³) Würfelchen. Wenn wir dafür eine Gleichung ansetzen, wobei s den Skalierungsfaktor (hier ), N die Anzahl der Teilelemente ("kleine" Figuren) und D die Dimension darstellen soll, so erhalten wir .
Löst man diese Gleichung nach D auf, erhalten wir eine Dimensionsformel:
Diese Formel soll für uns auch als Definition der fraktalen Dimension dienen.
Bei der Peano-Kurve wird die Initiator-Linie
ebenfalls in drei Teile geteilt (s=) und durch den
Generator ersetzt, der 9 solcher kleineren Linien (N)
enthält. Nach unserer Formel erhalten wir also:
Die Peano-Kurve besitzt also wirklich eine Dimension von 2 und
füllt eine Fläche vollständig aus, ja sie ist
praktisch selbst eine Fläche!
Welche fraktale Dimension besitzt dann die Koch-Kurve? Hier wird wiederum der Initiator mit dem Faktor s= geteilt, diesmal besitzt der Generator aber vier Teilstrecken N, also . Damit liegt sie, wie erwartet, zwischen der einer Linie (D=1) und der einer Ebene (D=2). Da auch, wie wir schon wissen, Küstenlinien als Fraktale gesehen werden können und müssen, kann experimentell auch bei diesen eine fraktale Dimension festgestellt werden (Eine Erläuterung dieser Methoden würde allerdings den Umfang dieser Arbeit sprengen). Für die Küstenlinie Großbritanniens wurde beispielsweise eine fraktale Dimension von 1,26 festgestellt, womit sie auch in der Nähe der Koch-Kurve liegt. (vgl. Mandelbrot 1987, S. 48-50 und S. 70-74; Briggs/Peat 1990, S. 132-133 und Scholl/Pfeiffer, S. 23-26)
5.4 Andere bekannte Fraktale: Sierpinkski-Dreieck und Cantor-Menge
In der Chaostheorie gibt es noch einige interessante Beispiele für Fraktale, die bekanntesten davon sind wahrscheinlich diejenigen von Sierpinski und Cantor. Eine Besonderheit ist diesen allerdings noch gemeinsam: Im Gegensatz zu den vorher besprochenen wird hier von einem Iterationsschritt zum nächsten die Figur nicht "größer", sondern sie wird kleiner.
Bei Sierpinski wird dabei bei jedem Schritt aus einem gleichseitigen Dreieck ein weiteres gleichseitiges Dreieck herausgeschnitten, bis sich eine unendlich löchrige Figur mit (aus einem Dreieck entstehen bei einer Skalierung s= drei Dreiecke) ergibt:
Georg Cantor, ein Mathematiker aus dem 19. Jahrhundert, beschäftigte sich bereits mit dem Problem, daß eine Linie aus unendlich vielen Punkten besteht. Er zerteilte eine Linie immer mehr, indem er aus dieser immer das mittlere Drittel herausschnitt. Dabei entstand eine staubartige Punktmenge, die heute als Cantor-Menge oder Cantor-Staub bekannt ist. Viele Chaosphysiker erkennen in ihr auch ein Muster der Intermittenz (zum Beispiel bei den Saturn-Ringen!), andere eine Ähnlichkeit mit den Lücken und Anhäufungen der Sterne am Nachthimmel. Da bei der Erstellung dieses Fraktals immer zwei Drittel der Linie übrigbleiben, ist die Berechnung der fraktalen Dimension auch einfach: . Damit erkennt man deutlich den Charakter der Cantor-Menge: Sie ist eine Punktmenge, die also zwischen der Dimension eines Punktes (D=0) und der Dimension einer Linie (D=1) liegen muß! Hier ihre Konstruktion:
(vgl. Mandelbrot 1987, S. 86-91; Schlöglhofer 1995, S. 31)
5.5 Ein Blick in die Natur: Fraktale, überall Fraktale!
Die Wissenschaft entdeckte Fraktale nicht nur durch theoretische "Spielereien", sondern, wie schon erwähnt, auch vielfach in der Natur. Nicht ohne Grund schrieb auch Mandelbrot, der "Vater" der Fraktale, ein Werk namens "Die fraktale Geometrie der Natur". Briggs/Peat schrieben nicht nur über die fraktale Struktur der Wetterentwicklung und diejenige von Bäumen, sondern auch über fraktale Entdeckungen im Organismus:
"Die Gehirne kleiner Säugetiere sind relativ glatt, die von Menschen dagegen höchst faltenreich. Eine fraktale Dimension zwischen 2,79 und 2,73 scheint für das menschliche Gehirn typisch zu sein. Auch in den Membranen von Leberzellen findet man fraktale Strukturen. Die Nasenknochen von Hirschen und Polarfüchsen sorgen für maximale Geruchsempfindlichkeit, indem sie die größtmögliche Oberfläche in ein kleines Volumen packen. Daraus ergibt sich eine fraktale Struktur mit konstanter gebrochener Dimension. [...]
Die Blutversorgung [des Menschen, Ergänzung durch den Verfasser] verzweigt sich zwischen acht- und 30mal, bevor sie jede Körperstelle erreicht und ihre fraktale Dimension ist drei. [...]
Fraktale Selbstähnlichkeit durchzieht die Körper der Organismen, aber es ist nicht die platte homunculusartige Selbstähnlichkeit, die sich die frühere Wissenschaft vorgestellt hatte. Der Körper ist eine Vernetzung von lauter selbstähnlichen Systemen wie den Lungen, den Gefäßsystemen, den Nervensystemen." (Briggs/Peat 1990, S. 154-157)
Selbst der Herzschlag des Menschen folgt einem fraktalen Rhythmus. Werden Herzschlag und Atemrhythmus zu regelmäßig, kann das zu Herzversagen durch Stauung führen. Wird der Rhythmus allerdings zu unregelmäßig, verursacht dies das Flimmern eines Herzanfalles. In der Praxis schwankt der Rhythmus also ein Leben lang im Grenzbereich zwischen Chaos und Ordnung hin und her.
Auch Gehirnströme folgen übrigens ungefähr einem fraktalen Muster. Bei Messungen während epileptischer Anfälle wurden hier aber ungewöhnliche Regelmäßigkeiten festgestellt. Vernichtet also Ordnung das normale chaotische Arbeitssystem des Gehirns? Die Wissenschaft wird hier jedenfalls noch sehr vielen Fragen nachgehen müssen. (vgl. Briggs/Peat 1990, S. 151-165; Sexl-Kühnelt-Stadler-Jakesch 1992, S. 9)
2 Bei der Konstruktion diverser Fraktale in dieser Arbeit konnten natürlich nicht, wie theoretisch notwendig, unendlich viele Iterationsschritte durchgeführt werden. Nach Möglichkeit wurden aber alle Schritte numeriert und so weit angeführt, wie es zum Verständnis notwendig schien.