2. Die Choastheorie

Der Grundsatz der Chaostheorie ist die Unvorhersagbarkeit nichtlinearer (komplexer) Systeme. Diese resultiert aus einer ganzheitlichen Sicht der Dinge und ihrer Wechselbeziehungen im Gegensatz zur reduktionistischen Sicht der klassischen Wissenschaften.

2.1 Das Problem der abgeschlossenen Systeme

Bisher wurde immer nur ein Element eines Systems betrachtet und das System auf dieses Element reduziert, wie wenn dieses selbst ein "abgeschlossenes System" wäre. Der Flug eines Schmetterlings zum Beispiel wurde (und wird oft noch immer) so betrachtet, daß der Schmetterling einen Luftpolster aufbaut, indem er die Flügel nach unten bewegt und sich dadurch in der Luft halten kann. So dachte man, genau berechnen zu können, wieviel Kraft der Schmetterling dazu braucht. Man erkannte aber sehr bald, daß mehrere gleiche Schmetterlinge verschieden viel Kraft benötigen und daß oft auch der Durchschnitt nicht unbedingt mit der Berechnung zusammenstimmt. Erst wenn er aus sehr vielen Versuchen gebildet wird, kommt er dieser wirklich sehr nahe. Woher stammt diese Entdeckung? Ganz einfach: Es gibt Schmetterlinge mit verschiedenem Gewicht und verschieden starken Flügeln, außerdem noch kleine Luftzüge, verschiedenen Luftdruck, verschiedene Erdanziehung (Höhe, geogr. Breite) und so weiter. Das ganze System wird so komplex, daß seine Berechnung nicht mehr möglich ist. Trotzdem muß man möglichst das ganze System betrachten, um alle Phänomene erklären zu können.

Das System ist natürlich noch viel größer: Der Schmetterling bewegt die Luft in seiner Umgebung, diese Bewegung könnte sich beispielsweise fortpflanzen, sodaß dieses Tier durch seinen Flug in Hong Kong ein paar Tage später einen Hurrican in den USA auslöst, eine Entdeckung, die bei Chaostheoretikern als "Schmetterlingseffekt" bekannt ist. Das ist natürlich nur eine von vielen Möglichkeiten, was passieren kann. Doch mit unserer Erde ist das System noch immer nicht zu Ende: Vielleicht fliegt der Schmetterling vor einer Flutwelle davon, die unser Mond und unsere Sonne ausgelöst haben.

Wir kennen bisher kein einziges wirklich abgeschlossenes System, beim Universum gehen selbst die Vorstellungen der Wissenschafter auseinander. Einerseits könnte es abgeschlossen sein, weil wir ja sonst nichts kennen, andererseits kennen wir keine Grenzen, an denen es abgeschlossen sein könnte. Die klassischen Wissenschafter betrachten also nur die statistisch wahrscheinlichsten Ereignisse, aber nicht alle Möglichkeiten und reduzieren damit ihre Sichtweise stark. Allerdings wäre vieles ohne diese Reduktion kaum mehr berechenbar. Besonders auffällig wird dieser Gegensatz allerdings bei der Wettervorhersage: Die wichtigen Faktoren des Systems sind selbst schon so komplex, daß die Prognose praktisch unmöglich wird. Durch eine geringe Störung oder Änderung (ein Millionstel bei irgendeiner Zahl genügt meist bereits) kann sich das morgige Wetter in einem Vorhersagemodell oft schon "um 180 Grad" wenden, z. B. von Regen auf Sonnenschein oder umgekehrt. (vgl. Briggs/Peat 1990, S. 96-97)

2.2 Henri Poincaré's Planetenproblem und dessen Folgen

Diese chaotischen Phänomene fielen erstmals Henri Poincaré im Ausklang des 19. Jahrhunderts auf: Er untersuchte die Bahnen von Planeten in unserem Sonnensystem. Nach Newton hatte er mit Kraftgesetz und den Massen zweier an einer Wechselwirkung beteiligter Körper die Möglichkeit, ihre Bahnen zu berechnen. Für das System Erde - Mond war das bei entsprechender Idealisierung (kein Zerren der Gezeitenkräfte an der Mondbewegung, keine Beeinflussung durch andere Planeten und die Sonne) ebenfalls möglich. Genau hier lag aber Poincarés Problem: Die Newtonschen Gleichungen wurden unlösbar, wenn er einen dritten Himmelskörper dazufügte. Mathematisch wurde das Problem nichtlinear. Er vergrößerte die Komplexität (Rückkoppelung) der Gleichung durch einen zusätzlichen Term, der die zusätzliche Wirkung des dritten Körpers beschrieb. Meist wurden die Bahnen, wie erwartet, nur geringfügig dadurch beeinflußt. Einige Bahnen aber verhielten sich aber schon bei winzigsten Störungen völlig chaotisch und torkelten im Zickzack herum oder flogen völlig aus dem Sonnensystem fort! Damit war die Möglichkeit zum Chaos zu einem existentiellen Bestandteil nichtlinearer Systeme geworden.

Erst 1954 wurde Poincarés Entdeckung wirklich verstanden. A. N. Kolmogoroff (Sowjetunion) und in Folge Wladimir Arnold und Jürgen Moser entdeckten, daß man durch zwei Bedingungen die chaotischen Bewegungen ausschließen konnte: Erstens sollte die Störwirkung nicht größer sein als die gravitationelle Anziehungskraft einer Fliege in Australien auf einen Menschen in Europa. Wissenschafter hoffen zwar, daß sie durch Verfeinerungen dies auch für größere Störungen beweisen können, sie arbeiten aber noch daran. Zweitens durften die Umlaufzeiten in keinem ganzzahligen Verhältnis (1:2, 1:3, 2:3 u. ä.) zueinander stehen, dann konnten sogar Störungen überstanden werden, die etwas größer waren als "die Fliege". Bei diesen ganzzahligen Verhältnissen würden nämlich die Effekte bei jedem Umlauf verstärkt werden. Unser Sonnensystem scheint also demnach nicht potentiell gefährdet zu sein.

Im Asteroidengürtel zwischen Jupiter und Saturn wurden übrigens genau an den Stellen mit einfachen Umlaufzeit-Verhältnissen zum Jupiter Löcher gefunden, denn dort kann sich nach diesen Erkenntnissen kein Asteroid halten. Und Hyperion, ein Mond des Saturn, scheint derzeit in einer chaotischen Phase zu sein, denn er taumelt auf seiner Bahn herum, was sonst unerklärlich wäre. Ebenfalls dürften Materieklumpen aus dem Asteroidengürtel durch die kombinierten Anziehungskräfte von Jupiter und Saturn aus der Umlaufbahn geworfen werden und zum Beispiel als Meteoriten zur Erde katapultiert werden.

Bei den Lücken in den Saturn-Ringen, die durch seine Monde verursacht werden, konnte man allerdings ein weiteres Phänomen feststellen: Die Löcher tauchten auf immer kleineren Maßstäben immer wieder im Ringsystem auf. Dieses Phänomen von gleichen Zuständen, die sich auf kleineren Maßstäben wiederholen, sollte die Chaostheoretiker öfter beschäftigen, es wird als "fraktale" Eigenschaft von chaotischen Systemen bezeichnet und taucht eben auch schon in den Anfängen der Chaostheorie, den Newton-Gleichungen von Henri Poincaré auf. (vgl. Schlöglhofer 1995, S. 1 und Briggs/Peat 1990, S. 34-38 u. S. 57-62)

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