Die fraktale Geometrie der Natur
Das Wort Fraktal wurde von Benoît B. Mandelbrot aus dem lateinischen Adjektiv fractus ('in Stücke zerbrochen, irregulär') kreiert. Im allgemeinen sind Fraktale durch unendliches Detail charakterisiert, durch unendliche Länge, durch das Fehlen einer Tangente bzw. Ableitung, durch gebrochene Dimension, Selbstähnlichkeit - und sie lassen sich durch Iteration erzeugen.
Die Selbstähnlichkeit bedingt im Endeffekt die weiteren beschriebenen Eigenschaften: Wenn sich die charakteristischen Formen des "Fraktals" auf immer kleineren Maßstäben wiederholen, dann tauchen diese Formen bei wiederholender bis sogar unendlicher Vergrößerung als neue Details wieder auf. Durch diese unendlichen Details kann man aber auch nicht mehr eindeutig feststellen, wie die Kurve in einem bestimmten Punkt verläuft - das Errechnen einer Ableitung wird unmöglich und die Länge der Kurve unendlich!
Die Koch-Kurve als typisches Beispiel für ein Fraktal
Das oft auch "Scheeflockenkurve" genannte Fraktal, das Helge von Koch 1904 entdeckte, eröffnet gute Möglichkeiten zur Beschreibung der fraktalen Eigenschaften. Man erhält diese Kurve, wie die meisten Fraktale, indem man einen Ersetzungsvorgang immer wieder durchführt, theoretisch sogar unendlich oft. Dieses Wiederholen eines Vorgangs wird auch als "Iteration" bezeichnet (lat. iterum = wiederum). In diesem konkreten Fall wird eine einfache Linie ("Initiator") durch eine Figur aus vier Linien ("Generator") ersetzt:
Diese in der Erstellung so einfach wirkende Kurve weist schon einen Komplexitätsgrad auf, der in der gewöhnlichen Geometrie eigentlich nicht auftritt. Will man jetzt die Länge dieser Kurve ermitteln, kommt man gehörig "ins Schwitzen": Nehmen wir an, der Initiator hat die Länge 1, dann beträgt die Länge der Kurve im ersten Schritt =1,333; im zweiten =1,778; im dritten 2,370; im vierten 3,160; im fünften 4,214 und so weiter, nach unendlich vielen Schritten (diese müßten ja ausgeführt werden) würde die Kurve unendlich lang!
Die gleiche Frage stellt sich auch in der Realität bei Staatsgrenzen und Küstenlinien: Durch den großen Detailreichtum ändert sich auch hier die Länge, je genauer der Maßstab ist, mit dem sie gemessen wird. Daher sind auch in verschiedenen Büchern oft verschiedene Längenangaben für ein und dieselben Grenzen oder Küsten angegeben! Diese unendliche Länge bei kleinstem Maßstab (man könnte ja auch um jedes Molekül oder Atom herum messen!) ist ein Grund, warum auch Grenzen und Küstenlinien als Fraktale gesehen werden können. Das gleiche muß, wenn man diese Erkenntnis überdenkt, bei praktisch jeder natürlichen Figur gelten, wie auch Benoît Mandelbrot in "Die fraktale Geometrie der Natur" schon allein durch diesen Titel feststellt.
Fraktale Dimension am Beispiel der Peano-Kurve
Wenn aber die Länge eines Fraktals nicht feststellbar ist, wie soll man dann Fraktale mathematisch vergleichen? Mandelbrot bietet eine Lösung an, eine Lösung, die sich nicht auf eine quantitative Messung wie die der Länge stützt, sondern auf eine Art von qualitativer Messung, die vom Maßstab unabhängig ist: die fraktale Dimension.
Schon die übliche Geometrie wirft Probleme mit dem traditionellen Dimensionsbegriff auf: eine Menge von Punkten ist nulldimensional, die eindimensionale Linie ist aber ihrerseits wieder als eine Menge von Punkten (!) definiert. Genauso ist eine Fläche und auch ein Körper wieder als Punktemenge definiert. Giuseppe Peano brachte 1890 eine weitere Bombe zum Platzen, als er eine "flächenfüllende Kurve" entdeckte. Alle Mathematiker waren sich einig, daß eine Kurve, auch wenn sie noch so gekrümmt war, eindimensional sein mußte und daß erst eine Ebene zweidimensional war. Peano hatte jetzt eine Kurve gezeichnet, die die ganze Ebene ausfüllte, auf der sie gezeichnet war:
War diese Kurve jetzt ein- oder zweidimensional? Mit unserem normalen ("topologischen") Dimensionsbegriff ist das nicht mehr nachvollziehbar. Mandelbrot nahm zur Beschreibung solcher Figuren denjenigen Begriff zu Hilfe, der in der Mathematik nach seinen Erfindern als Hausdorff-Besicovitch-Dimension oder einfach als gebrochene Dimension bekannt ist, und benannte ihn auch als fraktale Dimension.
Dieser Dimensionsbegriff kann durch Rückführung auf die "topologische" Dimension hergeleitet werden: Wird eine Linie mit dem Faktor 1/3 geteilt, dann entstehen 3 kleinere, gleich lange Linien. Teilt man mit dem gleichen Faktor ein Quadrat, so resultieren 9 (3²) kleine Quadrate, bei einem Würfel 27 (3³) Würfelchen. Setzt man dafür eine Gleichung an, wobei s den Skalierungsfaktor (hier 1/3), N die Anzahl der Teilelemente ("kleine" Figuren) und D die Dimension darstellen soll, so erhält man .
Löst man diese Gleichung nach D auf, entsteht eine Dimensionsformel:
Diese Formel soll für uns auch als Definition der fraktalen Dimension dienen.
Bei der Peano-Kurve wird die
Initiator-Linie ebenfalls in drei Teile geteilt (s=1/3) und
durch den Generator ersetzt, der 9 solcher kleineren Linien
(N) enthält. Nach unserer Formel erhalten wir
also:
Die Peano-Kurve ist demnach wirklich zweidimensional und füllt
eine Fläche vollständig aus!
Welche fraktale Dimension besitzt dann die Koch-Kurve? Hier wird wiederum der Initiator mit dem Faktor s=1/3 geteilt, diesmal besitzt der Generator aber vier Teilstrecken N, also . Damit liegt sie, wie erwartet, zwischen der einer Linie (D=1) und der einer Ebene (D=2). Da auch Küstenlinien als Fraktale gesehen werden können und müssen, kann experimentell auch bei diesen eine fraktale Dimension festgestellt werden (Eine Erläuterung dieser Methoden würde allerdings den Umfang dieses Referates sprengen). Für die Küstenlinie Großbritanniens wurde beispielsweise eine fraktale Dimension von 1,26 festgestellt, womit sie auch in der Nähe der Koch-Kurve liegt.
Andere bekannte Fraktale: Sierpinkski-Dreieck und Cantor-Menge
In der Chaostheorie gibt es noch viele interessante Beispiele für Fraktale, die bekanntesten davon sind wahrscheinlich diejenigen von Sierpinski und Cantor. Eine Besonderheit ist diesen allerdings noch gemeinsam: Im Gegensatz zu den vorher besprochenen wird hier von einem Iterationsschritt zum nächsten die Figur nicht "größer", sondern sie wird kleiner.
Bei Sierpinski wird dabei bei jedem Schritt aus einem gleichseitigen Dreieck ein weiteres gleichseitiges Dreieck herausgeschnitten, bis sich eine unendlich löchrige Figur mit (aus einem Dreieck entstehen bei einer Skalierung s=1/2 drei Dreiecke) ergibt:
Georg Cantor, ein Mathematiker aus dem 19. Jahrhundert, beschäftigte sich bereits mit dem Problem, daß eine Linie aus unendlich vielen Punkten besteht. Er zerteilte eine Linie immer mehr, indem er aus dieser immer das mittlere Drittel herausschnitt. Dabei entstand eine staubartige Punktmenge, die heute als Cantor-Menge oder Cantor-Staub bekannt ist. Da bei der Erstellung dieses Fraktals immer zwei Drittel der Linie übrigbleiben, ist die Berechnung der fraktalen Dimension auch einfach:. Damit erkennt man deutlich den Charakter der Cantor-Menge: Sie ist eine Punktmenge, die also zwischen der Dimension eines Punktes (D=0) und der Dimension einer Linie (D=1) liegen muß! Hier ihre Konstruktion:
Ein Blick in die Natur: Fraktale, überall Fraktale!
Die Wissenschaft entdeckte Fraktale nicht nur durch theoretische "Spielereien", sondern, wie schon erwähnt, auch vielfach in der Natur. Nicht ohne Grund schrieb auch Mandelbrot, der "Vater" der Fraktale, ein Werk namens "Die fraktale Geometrie der Natur". Briggs/Peat schrieben nicht nur über die fraktale Struktur der Wetterentwicklung und diejenige von Bäumen, sondern auch über fraktale Entdeckungen im Organismus:
"Die Gehirne kleiner Säugetiere sind relativ glatt, die von Menschen dagegen höchst faltenreich. Eine fraktale Dimension zwischen 2,79 und 2,73 scheint für das menschliche Gehirn typisch zu sein. Auch in den Membranen von Leberzellen findet man fraktale Strukturen. Die Nasenknochen von Hirschen und Polarfüchsen sorgen für maximale Geruchsempfindlichkeit, indem sie die größtmögliche Oberfläche in ein kleines Volumen packen. Daraus ergibt sich eine fraktale Struktur mit konstanter gebrochener Dimension. [...]
Die Blutversorgung [des Menschen, Ergänzung durch den Verfasser] verzweigt sich zwischen acht- und 30mal, bevor sie jede Körperstelle erreicht und ihre fraktale Dimension ist drei. [...]
Fraktale Selbstähnlichkeit durchzieht die Körper der Organismen, aber es ist nicht die platte homunculusartige Selbstähnlichkeit, die sich die frühere Wissenschaft vorgestellt hatte. Der Körper ist eine Vernetzung von lauter selbstähnlichen Systemen wie den Lungen, den Gefäßsystemen, den Nervensystemen." (Briggs/Peat 1990, S. 154-157)
Selbst der Herzschlag des Menschen folgt einem fraktalen Rhythmus. Werden Herzschlag und Atemrhythmus zu regelmäßig, kann das zu Herzversagen durch Stauung führen. Wird der Rhythmus allerdings zu unregelmäßig, verursacht dies das Flimmern eines Herzanfalles. In der Praxis schwankt der Rhythmus also ein Leben lang im Grenzbereich zwischen Chaos und Ordnung hin und her.
Auch Gehirnströme folgen übrigens ungefähr einem fraktalen Muster. Bei Messungen während epileptischer Anfälle wurden hier aber ungewöhnliche Regelmäßigkeiten festgestellt. Vernichtet also Ordnung das normale chaotische Arbeitssystem des Gehirns? Die Wissenschaft wird hier jedenfalls noch sehr vielen Fragen nachgehen müssen.
Literaturempfehlungen:
John Briggs/F. David Peat, Die Entdeckung des Chaos. Eine
Reise durch die Chaostheorie (dt. Übersetzung), 1990
Originaltitel: Turbulent Mirror. An Illustrated Guide to Chaos
Theory and the Science of Wholeness, 1989
Benoît B. Mandelbrot, Die fraktale Geometrie der Natur
(deutsche Übersetzung), 1987
Originaltitel: The Fractal Geometry of Nature, 1983
Robert Kaiser, Fachbereichsarbeit "Die Mandelbrotmenge", 1997
(Referat Magdalena Sobolewksi und Robert Kaiser, Übungen zu Theoretische Physik für das Lehramt L1, 10.01.2001)